Reisen

Gesellschaft

Reisen

Am 15. August 1961 begann Ostdeutschland, seinen "antifaschistischen Schutzwall“ zu bauen, der in Wirklichkeit eine Anlage zur Fluchtverhinderung war und die erwerbstätige Bevölkerung davon abhalten sollte zu fliehen. Diese Mauer, die an das Niemandsland des Ostblocks grenzte, wurde zum Symbol für die Reisebegrenzung. Auf Winston Churchill geht die Bezeichnung „Eiserner Vorhang“ zurück. Keine einzige Verfassung eines sozialistischen Landes gewährte das Recht, das Land zu verlassen und woanders zu leben. Die ostdeutsche Verfassung von 1968 erlaubte nur, innerhalb des Landes zu reisen, was aber immerhin mehr war als in Rumänien und vor allem in der Sowjetunion, wo Kolchosbauern Reisegenehmigungen (Propiska) benötigten, um ihren Landkreis zu verlassen. Auch Geschäftsreisen verlangten eine "vorübergehende Propiska". Die Ostblockländer schränkten das Reisen ein aus Angst, dass die Bürger nie zurückkehren würden, wenn sie den großen Unterschied zwischen der Propaganda und der Wirklichkeit der "nicht-sozialistischen Ausländer“ bemerkten. Reisen ins "Westausland" war, wie man in Ostdeutschland sagte, ein Privileg für diejenigen, die als "vertrauenswürdig" angesehen wurden (Mitglieder der Partei oder Menschen, die ihr Land gut vertraten), die eine Belohnung verdient hatten, oder für Personen im Ruhestand, die unter bestimmten Umständen ein paar Tage in Westdeutschland verbringen durften. Die Behörden würden dafür sorgen, dass enge Familienangehörige (Frau, Kinder) im Osten blieben, damit die Reisenden sich nicht verlocken ließen, auf der anderen Seite zu bleiben. Es gab Ausnahmen: Jugoslawien natürlich, das einzige sozialistische Land, in dem die Bürger ohne Visum in den Westen reisen durften, und in geringerem Maße auch Ungarn, das ab den 1980er Jahren Hunderttausende von Menschen in den Westen reisen ließ, und 1988 schließlich die Reisefreiheit einführte. Doch die meisten Länder waren hinsichtlich der Infrastruktur gut ausgestattet (für das große Territorium der UdSSR gab es als Fortbewegungsmittel Züge, Hubschrauber und auch Flugzeuge); die Eroberung von wilden Landstrichen war eines der Ziele des Sozialismus. Das bedeutete aber nicht Tourismus im westlichem Stil. In Russland war das Reisen bestimmten Gruppen vorbehalten, zum Beispiel Sportmannschaften. Überhaupt war es ein Privileg des Gruppentourismus: Pioniere konnten viele Inlandsreisen unternehmen oder Nachbarländer besuchen, wobei sie in bestimmten Gasthäusern oder Sommerferienlager blieben und Arbeitergruppen durften sich an Kurorten erholen. Reisen, die vom Arbeitsplatz organisiert wurden (Urlaub am Plattensee, am Schwarzen Meer, auf der Krim, in Kurorten etc.), "bezahlte" man mit Gutscheinen und hielt sich an straff organisierte bzw. betreute Reiserouten und Ferienorte. Individualtourismus war verpönt und zog Verdacht auf sich. Auch die Reisen in die "Bruderländer" waren alles andere als einfach. Die Behörden wollten unkontrollierten Handel über die Grenze zwischen den Ländern, die komplett andere Lebensweisen hatten, verhindern (so durften beispielsweise die Tschechen keine Kindersachen, Waschmaschinen oder bestimmte Arten von Porzellan aus der DDR mitbringen, die im eigenen Land knapp waren). Für das Reisen innerhalb der sozialistischen Länder benötigte man einen Reisepass und es hing von dem Wohlwollen der Behörden ab, diesen zu bekommen. Das Prozedere war lang und Anträge wurden in der Regel die ersten paar Male abgelehnt. Auch mit Bahn- und Flugtickets, die nicht nur teurer, sondern auch stark begrenzt waren, gab es ein Problem; gar nicht zu reden von den Engpässen mit den Hotelzimmern.

Themenarchiv

Ah, das Schwarze Meer ...

Die Krim, der Kaukasus und vor allem Odessa waren die Urlaubsziele der sowjetischen Bevölkerung.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Die Krim, der Kaukasus und vor allem Odessa waren die Urlaubsziele der sowjetischen Bevölkerung. Theoretisch hatten alle Arbeitnehmer das Recht auf 24 Urlaubstage pro Jahr. Jeder, der eine „Putevka" erhalten konnte, eine Art Urlaubsgutschein der Gewerkschaft, machte an der Küste Urlaub. Die Menschen nutzen diese Ferien oft für eine Kur in einem Erholungsgebiet (das war im Preis der „Putevka" enthalten), um ihre Gesundheit zu verbessern, die durch die Bedingungen am kommunistischen Arbeitsplatz verschlimmert wurde. Kurorte wurden von den Behörden daher als strategisch wichtig eingestuft. Familien waren tagelang im Zug unterwegs, um an überfüllte Strände zu gehen und unter der Sonne dicht nebeneinander wie Sardinen zu liegen. Es gab aber natürlich auch Privilegien und Vergünstigungen für Parteimitglieder und besonders verdienstvolle Persönlichkeiten.

Intourist-Urlaube im (Arbeiter-) Paradies

Bereits in den 1920er Jahren wurden in Sowjetrussland Systeme entwickelt, um mit ausländischen Touristen, radikalen revolutionären Aktivisten und Arbeiterdelegationen umzugehen.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Bereits in den 1920er Jahren wurden in Sowjetrussland Systeme entwickelt, um mit ausländischen Touristen, radikalen revolutionären Aktivisten und Arbeiterdelegationen umzugehen. In den 30er Jahren richtete die UdSSR Infrastrukturen ein, um einen sorgfältig gewählten und geführten internationalen Tourismus zu entwickeln, der für politische Zwecke genutzt wurde. Dieses System wurde in den 50er Jahren wieder aktiviert. Aber in den 60ern hatte der Tourismus der UdSSR die meisten seiner ideologischen Ziele verloren und war nichts außergewöhnliches mehr. Das Ziel von Intourist und Aeroflot war es, das Entzücken der Menschen über den Sozialismus zur Schau zu stellen – von Moskau bis zum Fernen Osten.

Do it yourself

Wer keinen Urlaubsgutschein bekommen hatte, also einen jener berühmten „Putevkas", musste versuchen, das Beste daraus zu machen.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Wer keinen Urlaubsgutschein bekommen hatte, also einen jener berühmten „Putevkas", musste versuchen, das Beste daraus zu machen: Ob nun ein spärlich möbliertes Zimmer oder auch nur ein Bett bei einem Ortsansässigen mieten, zu einem Touristenlager flüchten (eine Art Ferienwohnungskomplex meist außerhalb einer größeren Stadt, häufig im Wald), eine Blockhütte mieten, zelten, oder was ihnen sonst noch einfiel. Während der Breschnew-Ära waren diese Eskapaden, die Extremsportarten wie Bergsteigen, Rafting, Kajak etc. einschlossen, für junge Menschen eine Art Druckventil. Angesichts einer abgeschlossenen politischen Landschaft wurden Werte wie Mut, Freundschaft, Loyalität, Risiko- und Hilfsbereitschaft geschätzt und gefördert. Um Lagerfeuer wurden Melodien eigentlich verbotener Liedermacher (Vissotsky, Vizbor Gorodnitsky, Kogan) toleriert.

Freundschaftshotels

Unter Berücksichtigung aller Reisebeschränkungen war die Eröffnung eines Hotels, vor allem in einer Provinzstadt, eine riesiges Ereignis.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Unter Berücksichtigung aller Reisebeschränkungen war die Eröffnung eines Hotels, vor allem in einer Provinzstadt, eine riesiges Ereignis. Resopal-Tische, verblichene Tapeten und die typische Inneneinrichtung der 70er Jahre mögen heute altmodisch oder gar abschreckend aussehen, aber sie waren für die Delegationen der ungarischen Arbeiter und ihr Umfeld der letzte Schrei. Dies waren auch einige der seltene Momente, in denen sich Bürger der Brüderländer treffen konnten (mehr oder weniger formell). Nach den Olympischen Spielen in Moskau bekam das riesige Hotel Cosmos (3.500 Zimmer, aber fast nie ausgebucht) ein neues Ansehen. Nun lockte es die ausländischen Touristen und ihre Währungen an. Und auch dort hingen die monotonen Menüs von dem ab, was verfügbar war. Bananen waren genauso selten wie anderswo.

Freude am Einkaufen

Als der Eiserne Vorhang zwischen Österreich und Ungarn beseitigt wurde, überquerten 100.000 Ungarn die Grenze an einem einzigen Tag, um Kühlschränke (von der slowenischen Marke Gorenje) und Videorecorder zu kaufen.

Land: Volksrepublik Ungarn / Jahr:

Als der Eiserne Vorhang zwischen Österreich und Ungarn beseitigt wurde, überquerten 100.000 Ungarn die Grenze an einem einzigen Tag, um Kühlschränke (von der slowenischen Marke Gorenje) und Videorecorder zu kaufen. Dieser Tag im Jahr 1989 zeigte, dass die Angst der kommunistischen Behörden vor einer Massenflucht der Bürger und die der westlichen Nachbarn vor einer „Invasion" auf ihren Arbeitsmarkt unbegründet war. Die Ungarn nutzten ihre neu gefundene Reisefreiheit, um an Hartwährung zu gelangen (bisher verboten), wodurch sie nach Europa kommen und all das einkaufen konnten, was sie in ihrer Heimat nicht fanden, um es dann wieder mit zurückzunehmen. Es war eine Zeit des Umbruchs, so konnte das ungarische staatliche Fernsehen ungehindert einen Bericht über einen privaten Jeansbetrieb senden. Eine Zeit, in der Radio Free Europe auch einen Berichterstatter in Budapest haben durfte.

Die andere Welt

Wegen der Reisebeschränkungen in die „fremden kapitalistischen Länder", die lediglich den zuverlässigsten und verdienstvollsten Genossen vorbehalten waren, waren die Reisemöglichkeiten ins Ausland sehr begrenzt.

Land: Tschechoslowakei / Jahr:

Wegen der Reisebeschränkungen in die „fremden kapitalistischen Länder", die lediglich den zuverlässigsten und verdienstvollsten Genossen vorbehalten waren, waren die Reisemöglichkeiten ins Ausland sehr begrenzt. „Normale Genossen” konnten nur in die Bruderländer, außer nach Albanien, das ideologisch immer unberechenbar wurde. Nach Jugoslawien konnte man theoretisch, es wurde jedoch als verdächtig angesehen, da es einen Berührungspunkt mit dem Westen darstellte (und die Grenzen durchlässig waren). Pauschalreisen in die Sowjetunion mit staatlich anerkannten Reiseführern und Hotels wurden gefördert. Für private Reisen innerhalb der UdSSR musste man sich zusätzlich zu einem Visum und einer Erklärung der Reiseroute jeden Tag bei der örtlichen Miliz (Polizei) melden. Gelegentlich gab es auch die Möglichkeit, nach Indien oder Ägypten zu reisen, die eine enge Verbindung zu sozialistischen Lagern hatten, oder auch nach Vietnam und die Abenteuersuchenden konnten nach Nordkorea reisen. Und dann gab es auch noch Kuba, das ferne Paradies. Die Zahl der „exportierten" und „importierten" Touristen pro Land, deren Reiseziele, Datum und Dauer des Aufenthaltes etc. wurde allerdings vom Staat genau festgelegt.

Hurra zu Urlauben in den Brüderländern

Stau an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn, eines der touristischen Hauptziele innerhalb des Ostblocks.

Land: Tschechoslowakei / Jahr:

Stau an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn, eines der touristischen Hauptziele innerhalb des Ostblocks. Ungarn war sowohl das liberalste, als auch das reichste Land im Ostblock (dank des „Gulaschsozialismus"). Darüber hinaus hatte es den Plattensee, den größten See Mitteleuropas, der ein beliebter Urlaubsort insbesondere der Ostdeutschen war. Ungarn erkannte sie an ihren Autos, dem Zweitakt-Trabanten und dem Wartburg. Darüber hinaus sprachen am Balaton viele Ungarn deutsch. Ungarn war auch der einzige Ort, wo Ost- und Westdeutsche sich frei und ohne staatliche Überwachung treffen konnten. Im Gegensatz zu Ausflügen, die über den Arbeitsplatz organisiert wurden, benötigte man für das private Reisen eine ausländische Währung und man musste sich selbst um Hotels oder meistens Campingplätze bemühen.