Freie Fahrt in die Sowjetunion

Autor

Uwe Wirthwein

Reisender
Deutsche Demokratische Republik

Uwe Wirthwein wächst im südthüringischen Behrungen auf, nur wenige Meter entfernt von der schwerbewachten deutsch-deutschen Grenze. Das Dorf ist durch den Grenzverlauf zu zwei Dritteln vom „antifaschistischen Schutzwall“ der DDR umgeben und man braucht einen speziellen Passierschein, um überhaupt in das Dorf zu kommen. Die Grenze und Isolation in der Sperrzone wecken Uwes Freiheits- und Abenteuerdrang. Aufgewachsen am westlichen Punkt des Ostblocks, beginnt er später als Student auf illegalen Reisen den Osten zu erkunden und bereist sämtliche Provinzen der Sowjetunion, wo er ein unverfälschtes und authentisches Bild vom Leben im Vielvölkerstaat bekommt. Die Präsenz von Militär und Bewachung prägen bereits Uwe Wirthweins Kindheit, so z. B. wenn er beim Spielen im nahegelegenen Wald von bewaffneten Soldaten verhaftet wird. Der Wunsch, diesem "Bollwerk" zu entkommen, wächst zunehmend. Mit Beginn seines Studiums trifft er auf Gleichgesinnte und gemeinsam organisieren sie aufwändige und illegale Reisen in die Sowjetunion. Mithilfe von Transit-Visas reisen die Studenten über Moskau in die UdSSR ein und starten von dort ihre eigentlich verbotenen Expeditionen in die sibirische Tundra, in den Kaukasus um dort den den Elbrus, den höchsten Berg Europas zu besteigen oder in die entlegenen Gebirgszüge Tadschikistans. Heute lebt er mit seiner Frau und drei Kindern wieder in seinem Heimatort in einem selbstgebauten Lehmhaus und spricht offen über seine Erfahrungen vom Leben an der Grenze und vom Gefühl Grenzen zu überwinden.

Postkarte

Sowjetunion, Saratov
46.03; 51.55
Vorderseite, Autor: Uwe Wirthwein
Rückseite, Autor: Uwe Wirthwein
Saratow
Die Stadt Saratow an der Wolga im europäischen Teil Russlands ist nur eine von vielen Stationen Wirthweins, der mit Freunden den wasserreichsten Fluß Europas entlang fährt. Die 1965 fertig gestellte Brücke in Saratow galt damals als längste des Kontinents.
Behrungen
Uwe Wirthwein wächst nur wenige Meter von der bayrischen Grenze auf. Das idyllische Dorf ist nach drei Himmelsrichtungen von der Grenze eingeschlossen und wird von zahlreichen Grenzsoldaten und informellen Mitarbeitern des Geheimdienstes streng überwacht. So wird Uwe Wirthwein als Kind sogar des Öfteren beim Spielen im Wald festgenommen.
Miliz
Trotz des riesigen Stasi-Überwachsungsapparates in der DDR gelingt es im normalen Leben immer wieder durch die engen Maschen des Systems zu schlüpfen und insgesamt sieben längere Reisen in die Sowjetunion zu unternehmen. Auch vor Ort kommen sie immer wieder in Kontakt mit der Staatsgewalt, doch mit gebrochenem Russisch und einer guten Ausrede können sie ihre Reisen stets fortsetzen. So behaupten Wirthwein und sein Freunde gelegentlich, sie hätten ihre Reisegruppe verloren. Die vermeintliche Reisegruppe ist dann natürlich dorthin verschwunden, wo sich das nächste Reiseziel befindet. Die Fahrkarte dorthin wird dann nach einer Nacht in Gewahrsam sogar von der Miliz besorgt.
"Unten"
Gemeint ist der mittelasiatische Teil der Wolga. Ziel ist das Fan Gebirge, im heutigen Tadschikistan. Allerdings wird die Weiterreise hier dann doch behindert und stattdessen eine Tour in den Kaukasus improvisiert.
Postkartentext
"Da ich mit meiner aktuellen Berichterstattung nun einmal angefangen hab, will ich sie auch fortsetzen. Nach etwas 4h Diskussion mit der Miliz hatten wir sie dann doch davon überzeugt uns Tickets gen Mittelasien zu kaufen. Wir werden nun 14.00 Uhr hier losfahren und hoffentlich am Wochenende unten sein. Alles okay. Uwe"

Persönliche Archive

Sperrzone

Die vermeintlich idyllische Gemeinde Behrungen war zu zwei Dritteln von der Grenze der DDR zum Freistaat Bayern umgeben und entsprechend militärisch gesichert.

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

Die vermeintlich idyllische Gemeinde Behrungen war zu zwei Dritteln von der Grenze der DDR zum Freistaat Bayern umgeben und entsprechend militärisch gesichert. Das Leben in dem thüringischen Ort war geprägt von der permanenten Präsenz der Grenztruppen und der Isolation durch die Sperrzonenregelungen, d. h. niemand durfte den Ort in der Sperrzone ohne ausdrückliche Genehmigung ("Passierschein") betreten. Uwe Wirthwein empfand dieses "Bollwerk" als engen, bedrückenden und unnatürlichen Lebensraum.

Behrunger Indianer

Der natürlichen kindlichen Abenteuerlust wurden in Behrungen sehr konkrete Grenzen gesetzt.

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

Der natürlichen kindlichen Abenteuerlust wurden in Behrungen sehr konkrete Grenzen gesetzt. In der kleinen Gemeinde war eine Grenzkompanie mit 80 Soldaten stationiert, die es sich u. a. zur Aufgabe machte, Uwe Wirthwein und seinen Bruder im nahegelegenen Wald beim Spielen zu verhaften. Mit vorgehaltener MP wurden die Kinder abgeführt, beschimpft sowie die Eltern von diesem "Vergehen" unterrichtet, obwohl kein offizielles Verbot bestand, sich im Waldstück aufzuhalten. Aus diesen Erfahrungen entwickelte sich folglich ganz natürlich der Wunsch, dieser Enge zu entkommen.

Gipfelstürmer

Uwe und seine Freunde erklommen einen Gipfel des Tian Shan Hochgebirges im zentralasiatischen Turkestan.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Uwe und seine Freunde erklommen einen Gipfel des Tian Shan Hochgebirges im zentralasiatischen Turkestan. Insgesamt unternahm Uwe Wirthwein zwischen 1984 und 1989 sieben Reisen in die Sowjetunion. Er verstand sich in erster Linie als Abenteurer, der auf seinen Reisen eine intensive Begegnung mit Natur und Menschen suchte. So waren die Reisen weniger ein Ausdruck politischen Protests, sondern von Neugierde und Abenteuerlust geprägt.

Gipfelfest

Auf 5500m Höhe feiern Uwe und seine Freunde die Eroberung des Tian Shan.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Auf 5500m Höhe feiern Uwe und seine Freunde die Eroberung des Tian Shan. Die Erfahrung mit Höhen finanzierte die nächsten Reisen mit: Die jungen Ingenieure erhielten bei sogenannten "gerüstfreien Höhenarbeiten" für Dresdner Baugesellschaften beträchtliche Gefahrenzulagen.

Begegnungen

Auf ihren Reisen lernten die Studenten immer wieder auch Einheimische und das authentische Leben abseits sowjetischer Propaganda kennen.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Auf ihren Reisen lernten die Studenten immer wieder auch Einheimische und das authentische Leben abseits sowjetischer Propaganda kennen. Dort wurden sie dabei oft als "nasch pribaltiki", unsere Vorbalten, bezeichnet. Mit dieser Zuschreibung konnten sie ihr fremdländisches Aussehen und ihr eher dürftiges Schulrussisch rechtfertigen. Zu den skurrilen Erlebnissen der Gastfreundlichkeit gehörte auch die spontane Einladung zu einer Totenfeier, zu der aufgrund der Prohibition unter Gorbatschow nur stärkster selbstgebrannter Schnaps getrunken wurde.

"Der nächste Schritt war immer unklar."

Heimlich und mit selbst gefertigtem Material wurden die aufwendigen Touren ins Ungewisse vorbereitet.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Heimlich und mit selbst gefertigtem Material wurden die aufwendigen Touren ins Ungewisse vorbereitet. Mit einer alten ungenauen Militärkarte wurde beispielsweise eine sibirische Flussfahrt geplant. Jeder der Teilnehmer besorgte einen Teil des Materials, das in einer leerstehenden Dresdner Hinterhauswohnung zu einem Boot zusammengebaut wurde. Mit den Einzelteilen und 36kg Gepäck pro Kopf ging es dann los und das Boot wurde dann vor Ort vollständig zusammengesetzt. Ersatzteile gab es ebenso wenig wie einen ausgearbeiteten Plan B.

Kopfstand

Dieses Foto entstand auf einer Reise mit einem selbstgebauten Eissegler über den Baikalsee, dem mit 1.642 tiefsten Süßwassersee der Welt.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Dieses Foto entstand auf einer Reise mit einem selbstgebauten Eissegler über den Baikalsee, dem mit 1.642 tiefsten Süßwassersee der Welt. Der See war zu dieser Jahreszeit komplett mit einer Eisdecke überzogen. Die Reisenden taten es den einheimischen Fischern gleich und sägten Angellöcher ins Eis, fingen aber gerade mal einen fingergroßen Fisch.

Offiziell abenteuerlich

Uwes Aufgabe zur Vorbereitung dieser sibirischen Flussfahrt war der Entwurf eines Logos.

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

Uwes Aufgabe zur Vorbereitung dieser sibirischen Flussfahrt war der Entwurf eines Logos. Das von Uwe entworfene Logo, unten rechts auf die Fotografie gedruckt, lautet in kyrillischen Buchstaben "Sibir'89", wobei das kyrillische S, also ein C, größer und mit einem Elch darin versehen war. Das Logo wurde auf sämtliche Utensilien - Schwimmkörper, Kleidung, Equipment - geklebt. Damit sollte die ganze Tour offiziell und folglich so legal wie möglich wirken.

Dresden

Für sein Studium ging Uwe nach Dresden, entkam so der Apathie der Sperrzone und begann sich eingehender politisch zu informieren und zu engagieren.

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

Für sein Studium ging Uwe nach Dresden, entkam so der Apathie der Sperrzone und begann sich eingehender politisch zu informieren und zu engagieren. Ein Fotograf hatte mit offizieller Genehmigung Stimmungen auf Bahnhöfen festgehalten. Uwe und seine Freunde halfen ihm, seine Bilder anzubringen, wobei ihnen trotz der Genehmigung immer wieder mit Verhaftung gedroht wurde.

Flussfahrt

Zum schweren Gepäck Uwes und seiner Freunde gehörte neben lebensnotwendigem Equipment auch eine 16mm-Kamera...

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

Zum schweren Gepäck Uwes und seiner Freunde gehörte neben lebensnotwendigem Equipment auch eine 16mm-Kamera, mit der die einmaligen Abenteuer filmisch festgehalten wurden. Zu sehen sind hier u. a. die Begegnung mit dem Einheimischen Anton und seinem Elch sowie der Bau eines Katamarans und die anschließende Flussfahrt damit. Auf den Jacken befindet sich gut sichtbar das eigens für die Reise von Uwe entworfene Logo. Es lautet in kyrillischen Buchstaben "Sibir'89", wobei das kyrillische S, also ein C, größer und mit einem Elch darin versehen war. Das Logo wurde auf sämtliche Utensilien - Schwimmkörper, Kleidung, Equipment - geklebt. Damit sollte die ganze Tour offiziell und folglich so legal wie möglich wirken.

Eissegler

Zum schweren Gepäck Uwes und seiner Freunde gehörte neben lebensnotwendigem Equipment auch eine 16mm-Kamera...

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

Zum schweren Gepäck Uwes und seiner Freunde gehörte neben lebensnotwendigem Equipment auch eine 16mm-Kamera, mit der die einmaligen Abenteuer filmisch festgehalten wurden. Den im Clip angefertigten Eissegler bauten die jungen Ingenieure auf der Grundlage eines DDR-Zeichentrickfilms und lasen zur weiteren Vertiefung „Der junge Segler“. Mit dieser löchrigen Expertise gelang der Segeltörn auf dem zugefrorenen Baikalsee, dem tiefsten See der Erde.