Minderheiten

Gesellschaft

Minderheiten

Der Kommunismus sollte nicht nur egalitär, sondern auch internationalistisch sein. Die Idee war es, eine Gesellschaft ohne Klassen und Nationen zu schaffen. Im Dezember 1922 gegründet und mehr als einmal überarbeitet, erkannte das bundesstaatliche und institutionelle Gefüge der Sowjetunion tatsächlich die Existenz von sowohl föderativen (15 Stück im Jahr 1956) als auch autonomen Republiken an. Obwohl diese keine politische Souveränität besaßen, hatten sie doch kulturelle Rechte und eigene autonomen Regionen in Form von kleinen ethnischen Verwaltungseinheiten. In Wirklichkeit jedoch beunruhigte die bolschewistischen Führer von Anfang an die Gewalt der zentrifugalen Bewegungen, die gegen das ehemalige Zarenreich einsetzten. Sie hatten Angst davor, dass das neue Russland auf sein Landesinnere reduziert werden würde. Daher kam es zu der bewaffneten Invasion der Gebiete, die das Zarenreich wieder herstellte – eines der wichtigsten Ziele von Stalin, „dem kleinen Vater der Völker". Darüber hinaus blieb die tatsächliche Macht hinter dem oberflächlich föderalen System zentralisiert und die Machtbefugnisse der Republiken und regionalen Verwaltungen waren relativ begrenzt. Außerdem hatte die überwiegende Mehrheit der Republiken, die theoretisch auf nationalen Grundlagen organisiert waren, Minderheiten, deren territoriale Abgrenzung eine direkte Folge des Bestrebens war, nationalistischen Ausdruck innerhalb der Sowjetrepubliken einzugrenzen oder zu verhindern. Dies war zum Beispiel bei der armenischen Enklave in Bergkarabach der Fall, die bewusst in die Republik Aserbaidschan eingegliedert wurde. Die unterschiedliche Einstellung des sowjetischen Regime gegenüber Minderheiten verriet eine gewisse Ambivalenz. Einerseits rühmten offizielle Reden die Freundschaft zwischen den Völkern und förderten Respekt für ethnische Gruppen von den baltischen Staaten bis Zentralasien, von Sibirien bis zu den verflochtenen Bevölkerungen des Balkans. Andererseits führten die starken nationalistischen Absichten unter diesen weit verstreuten Nationalitäten dazu, dass die Sowjetunion die Macht zentralisierte und Minderheiten assimilierte, oder im Falle der UdSSR sogar „russifizierte". Diese Praktiken waren weit davon entfernt, das nationalistische Gefühl abzuschaffen. Sie verstärkten und befeuerten vielmehr ethnische und kulturelle Proteste, die später am Zusammenbruch der kommunistischen Staaten mitwirkten.

Themenarchiv

Plakat über die Kollektivierung für Rentierzüchter in Sibirien

„Wählt die Proletarier und haltet die Schamanen und Kulaken davon ab, dem lokalen Konsul beizutreten!“

Land: Sowjetunion / Jahr:

„Wählt die Proletarier und haltet die Schamanen und Kulaken davon ab, dem lokalen Konsul beizutreten!“ Von Beginn an strebte das kommunistische Projekt nach weltweiter Verbreitung. In den 1920ern war es noch auf die UdSSR begrenzt, breitete sich aber nach und nach bis zum äußersten Rand des „Sowjetimperiums" aus – sogar bis zu den Rentierzüchtern in Sibirien. Als zentrales Element der kommunistischen Propaganda war die Kollektivierung auch ein mächtiges Werkzeug zur Sowjetisierung, d. h. sowohl für die politische Unterwerfung (wie in der Ukraine in den 1920ern und in den baltischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg) als auch für die kulturelle Assimilation.

Estland, 1987. Der Hirvepark

Während die Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verhalten begann, kennzeichnete der Beginn des Kalten Krieges den Anfang einer brutalen Sowjetisierung.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Während die Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verhalten begann, kennzeichnete der Beginn des Kalten Krieges den Anfang einer brutalen Sowjetisierung: Mit Säuberungsaktionen, Zwangskollektivierung und Massenunterdrückung gingen Maßnahmen einher, die die lokalen Eliten abgrenzten, die Denkmäler der Toten aus dem Krieg zerstörten und die Verwendung von Muttersprachen einschränkte, um das Bestreben nach Auflösung nationaler Kulturen zu demonstrieren. Diese Politik war alles andere als erfolgreich und verstärkte nur die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber „der sowjetischen Besatzung“. Ende der 80er Jahre hatte die baltische Gesellschaft den Kampf gegen die zentrale sowjetische Macht begonnen. 1987 wurden die drei Länder zum ersten Mal zur Bühne für Volksstreiks. Die kommunistischen Behörden waren ratlos, weil die Streiks zum einen nicht politische Angelegenheiten behandelten, (die Banner erklärten hier einfach die Namen der baltischen Staaten in den Muttersprachen) und zum anderen war im Rahmen von Gorbatschows Glasnost eine brutale Unterdrückung keine Möglichkeit mehr.

„Freundschaft zwischen den Völkern“

„Der große Stalin ist der Fahnenträger der Freundschaft zwischen den Völkern in der Sowjetunion."

Land: Sowjetunion / Jahr:

„Der große Stalin ist der Fahnenträger der Freundschaft zwischen den Völkern in der Sowjetunion." Am 15. November 1917 verkündete die bolschewistische Revolution „die Erklärung der Menschenrechte der Völker Russlands“. Seit seiner Gründung tat das Regime folglich seine Absicht kund, dem „Menschengefängnis" des Zarenreiches ein Ende zu setzen und eine Gesellschaft frei von Klassen und Nationen aufzbauen. Als es die Ablehnung der imperialen Praktiken proklamierte, wollte das sowjetische Regime seine Autorität festigen, indem es versuchte, eine freiwillige Bindung der verschiedenen Völker des neuen Russland zu erreichen. Während der gesamten Existenz der UdSSR, von ihren europäischen Grenzen bis nach Sibirien, vom hohen Norden bis nach Zentralasien, war Freundschaft und Anerkennung zwischen den Völkern immer ein Thema, das in die Propaganda miteinbezogen wurde.

Soziale Spannungen in Alma-Ata, der Hauptstadt von Kasachstan

Die Entstalinisierung brachte Änderungen in das einheitliche zentralisierte Schema, das größtenteils gewaltsam etabliert worden war:

Land: Sowjetunion / Jahr:

Die Entstalinisierung brachte Änderungen in das einheitliche zentralisierte Schema, das größtenteils gewaltsam etabliert worden war: In Bezug auf Kultur und Sprache wurde mehr Freiheit gewährt und nach der Zeit der Russifizierung wurde auch lokale Führung wieder mehr gefördert. Aber während der 60er und 70er Jahre waren die Nationen und Nationalitäten einer stark vereinenden Formierung ausgesetzt. Wie zur Zarenzeit variierten die Anerkennung der Rechte und der nationalen Identitäten je nach Willen der Zentralregierung. Die Gorbatschow-Jahre stellten eine echte Wendung dar: Das Ende der Zensur und die wiedererlangten Freiheiten stifteten schon 1985 bis 1986 „zentrifugale", nationalistische Proteste an. Einige waren gewaltsam, wie dieser hier in Alma-Ata, der Hauptstadt von Kasachstan. Im Jahr 1990 spalteten sich nacheinander die Parlamente der 15 Republiken ab und im Dezember 1991 konnte die UdSSR den Zusammenbruch nicht mehr länger verhindern.

Die Krise der ungarischen Minderheit in Rumänien

In Südosteuropa stimmten die Staatsgrenzen, die aus zwei Weltkriegen entstanden sind, nicht mehr mit dem Mosaik der Bevölkerung überein.

Land: Volksrepublik Ungarn / Jahr:

In Südosteuropa stimmten die Staatsgrenzen, die aus zwei Weltkriegen entstanden sind, nicht mehr mit dem Mosaik der Bevölkerung überein. Trotz der offiziellen Ansprachen über freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen blieb die Frage der Minderheiten in vielen Ostblockländern ungelöst und Gegenstand von Debatten. In Ungarn zum Beispiel kam in den letzten zwanzig Jahren der kommunistischen Ära immer wieder das Problem der magyarischen Minderheiten auf, die in den Nachbarstaaten lebten. Zunächst war die Definition der ungarischen Identität kultureller Natur, bis sie schließlich eine politische Färbung bekam. Nach der Schlussakte von Helsinki (1975) verwickelte sich der Diskurs über das kulturelle Volkstum mit der Idee, sich für Menschenrechte einzusetzen, beispielsweise die Verteidigung magyarische Dissidenten in der Tschechoslowakei oder die Verurteilung der Verbrechen von Ceaucescus kommunistischer und nationalistischer Diktatur in Rumänien gegenüber der ungarischen Minderheit (vor allem die Zerstörung von Dörfern). Die Mobilisierung wurde von 1988 bis 1989 verdoppelt, als Ungarn mit einem massiven Zustrom von Flüchtlingen (rund 25.000) konfrontiert wurde. Größtenteils handelte es sich dabei um Menschen ungarischer Herkunft, die vor Ceaucescus Regime flohen.

Ida Nudel, eine jüdische Dissidentin, die in Sibirien inhaftiert war

Von der Zarenzeit bis hin zum Zusammenbruch der Sowjetunion war Antisemitismus immer sehr stark in Russland vertreten: Die bolschewistische Revolution und der Zweite Weltkrieg stellten kurzzeitige Intermezzi in der Verfolgung dar.

Land: / Jahr:

Von der Zarenzeit bis hin zum Zusammenbruch der Sowjetunion war Antisemitismus immer sehr stark in Russland vertreten: Die bolschewistische Revolution und der Zweite Weltkrieg stellten kurzzeitige Intermezzi in der Verfolgung dar. Während russische Juden ein kleines „Tauwetter" unmittelbar nach Stalins Tod genossen, tauchte Antisemitismus - als Antizionismus getarnt - in den letzten Jahren von Chruschtschows Herrschaft und auch unter Breschnew wieder auf. Die Themen waren stets die gleichen: Israel, ein wesentlicher Bestandteil des „Weltimperialismus", versuche, eine „fünfte Säule" in der Sowjetunion zu errichten, während jüdische internationale Organisationen für „die reaktionäre jüdische Bourgeoisie" standen und Vertreter der „weltweiten jüdischen Verschwörung“ waren. Trotz der Unterdrückung entstand eine gesonderte jüdische Opposition, die das Recht forderte, das Land verlassen zu dürfen. Die Geschichte von Ida Nudel veranschaulicht die „Refusenik-Bewegung“, die nur teilweise erfolgreich war. Im Jahr 1931 geboren, wollte Ida Nudel 1970 zunächst nach Israel auswandern. Nachdem sich die sowjetischen Behörden geweigert hatten, führte sie einen Kampf, der sie in ein vierjähriges Exil nach Sibirien führte, von wo sie ihren Kampf fortführte. Erst 1987 bekam sie schließlich ein Ausreisevisum.