Flucht

Politik

Flucht

Der Soziologe A. O. Hirschman erklärte einst, in einem Land gäbe es immer nur drei mögliche Verhaltensweisen: loyal zu sein, zu protestieren oder das Land zu verlassen. In den Ostblockländern war es illegal zu protestieren oder auch das Land zu verlassen (sprich „mit den Füßen zu wählen“). Das Arbeiterparadies war im Aufbau; daraus zu fliehen hieß, es zu verraten. Der „Eiserne Vorhang“ (Churchill) war mehr als nur eine Redensart: Die Berliner Mauer war über große Strecken hin mit Stacheldraht versehen. Daran grenzten Minenfelder; Wachhunde, Soldaten mit Schießberechtigung und sogar Selbstschussanlagen wurden zur Bewachung des Grenzstreifens eingesetzt (die 171 Menschen, die an der Mauer starben, sind der traurige Beweis für ihre kombinierte Effizienz). Das Niemandsland verlief von der sowjetisch-finnischen Grenze, die seitens der Sowjetunion scharf beobachtetet wurde, bis hin zu den Zäunen, die die Tschechoslowakei und Ungarn von Österreich trennten (und die nach den Aufständen von 1956 und 1968 verstärkt wurden). Selbst zwischen den sozialistischen Ländern gab es Wachtürme und Stacheldraht. Von 1946 bis 1961, also in den Jahren vor dem Mauerbau, flüchteten Tausende Ostdeutsche in den Westen, in der Regel mit der U- oder S-Bahn über Berlin. Nach dem Mauerbau brauchte man kompliziertere Pläne, Tunnel, Geld, Mut und Helfer. In Polen fälschten Grafiker ihre Ausweise. Einige Leute reisten der offenen Grenzen wegen über Jugoslawien aus. Jeder, der für Gruppenreisen oder Sportveranstaltungen – die von den Geheimdiensten (Stasi, KGB, etc.) streng bewacht wurden – verantwortlich war, musste Fluchtversuche der Teilnehmer befürchten. Jeder, dessen Fluchtversuch misslang, hatte eine lange Haftstrafe wegen „Republikflucht“ (Ostdeutschland) oder wegen „Grenzverletzung“ vor sich. Verlässliche Statistiken über die Zahl der tatsächlichen und versuchten Fluchten sind nicht verfügbar. In der UdSSR zog das Schicksal der Juden, denen die Ausreise nach Israel verweigert wurde („Refuseniks“), internationale Aufmerksamkeit auf sich. Im Jahr 1976 wurde der Dissident Natan Sharansky zu ihrem Sprecher und verteidigte sowohl Laien, die dem sowjetischen Antisemitismus entfliehen wollten als auch religiöse Gläubige, die ins Heilige Land gelangen wollten. Er wurde 1977 zu 13 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und im Jahr 1986 nach Berlin entlassen. Im Westen (Berlin, London, Paris) unterstützten sich kleine Emigrantengemeinden im Exil gegenseitig und versorgten die Zurückgebliebenen mit Geld, Büchern, Samisdat und Informationen. Der einflussreichste Flüchtling war der ungarische Millionär George Soros, der ein großes Hilfsnetzwerk für Intellektuelle, Dissidenten und andere Gegner des osteuropäischen Regimes, die Soros Foundation, schuf. Für diejenigen, die nicht durch den Eisernen Vorhang kamen, gab es die Option der inneren Emigration, d.h. der sozialistischen Wirklichkeit mit jeglichen Mitteln zu entfliehen. Einige gingen als autarke Bauern oder Hirten auf das Land zurück, andere wurden Dichter oder Musiker, wobei ihre Themen alles Politische vermieden. In den späten 1980er Jahren regten vor allem politische Unterschiede zwischen den Ostblockländern die Ostdeutschen dazu an, ihre Flucht über die reformorientierteren Nachbarländer wie der Tschechoslowakei und Ungarn (Abschaffung des Eisernen Vorhangs am 2. Mai 1989, „Paneuropäisches Picknick" am 19. August 1989) zu versuchen. Die westdeutschen Botschaften in diesen Ländern wurden zu wichtigen Durchfahrtsstationen. Auch dies trug zum Fall der Mauer am 9. November 1989 bei.

Themenarchiv

Den Eisernen Vorhang zerschneiden

Am 26. Juni 1989, an einer Stelle unweit der Stadt Sopron durchschnitten Alois Mock, der österreichische Außenminister, und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn mit speziellen Drahtscheren symbolträchtig den Stacheldraht, ...

Land: Volksrepublik Ungarn / Jahr:

Am 26. Juni 1989, an einer Stelle unweit der Stadt Sopron durchschnitten Alois Mock, der österreichische Außenminister, und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn mit speziellen Drahtscheren symbolträchtig den Stacheldraht, der ihre beiden Länder für vier Jahrzehnten getrennt hatte. Diese erste Öffnung der bisher hermetisch abgeschotteten Grenze war bis zum 10. September 1989 nicht gesetzlich anerkannt. Die eigentliche Demontage des Eisernen Vorhangs hatte schon am 2. Mai 1989 begonnen, als die ungarische Regierung den Eisernen Vorhang entlang der 260 km ihrer Grenze zu Österreich abbaute. Tatsächlich hatten ungarische Grenzsoldaten die Instandhaltung ihres Abschnitts des Eisernen Vorhangs im Jahr 1986 diskret gestoppt, in Anbetracht dessen, dass das Instandhalten sowohl überholt als auch sehr teuer war. Tatsächlich war es schon schwierig geworden, einen intakten Abschnitt für die beiden Minister zu finden, um ihn vor den Nachrichtenkameras aufzuschneiden. Intern hatten die Sowjets bekannt gegeben, dass sie ihre Entscheidungen nicht länger mit militärischer Macht durchsetzen würden. Es war das effektive Ende der „Breschnew-Doktrin": 1968 hatte Breschnew gesetzlich besiegelt, dass die Sowjetunion die Souveränität der Satellitenstaaten als eingeschränkt betrachten und mit Waffengewalt vorgehen würde, sollte der Sozialismus „bedroht“ sein. 1989 hatte Gorbatschow in Übereinkunft mit dem finnischen Präsidenten seinen Verzicht auf diese Regelung erklärt. Das Drahtdurchschneiden hatte einen Domino-Effekt: Unter dem Vorwand, Urlaub am Balaton zu machen, nutzen viele Ostdeutsche die ersten Löcher im Vorhang, um über Ungarn in den Westen zu fliehen.

Die Opfer der Mauer

„Antifaschistischer Schutzwall“ für Ostdeutschland; „Schandmauer“ für den Westen – und auch Mauer der Toten.

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

„Antifaschistischer Schutzwall“ für Ostdeutschland; „Schandmauer“ für den Westen – und auch Todesmauer. Am Ende umfasste diese komplexe militärische Einrichtung zwei 3,6 Meter hohe Mauern mit Gehwegen, 302 Wachtürme, eine Alarmanlage, 14.000 Wachen, 600 Wachhunde und viele Kilometer Stacheldraht. Rund 160 DDR-Bürger ließen ihr Leben bei dem Versuch, sie zu überschreiten: DDR-Grenzsoldaten und sowjetische Soldaten hatten den Befehl, auf Flüchtlinge zu schießen. Die Gesamtzahl der Todesopfer an der Grenze beträgt mindestens 421, obwohl einige Fälle in Ostdeutschland vertuscht wurden. Günter Litfin (24 Jahre) war am 24. August 1961 der erste, nur elf Tage nachdem die Grenze geschlossen wurde. Chris Gueffroy war am 5. Februar 1989 das letzte Opfer der Mauer. Die Kreuze in der Nähe des Reichstags gedenken einiger von denen, die starben, als sie versuchten, die Freiheit zu erlangen.

Lasst uns nach Israel gehen

Zwischen traditionellem Antisemitismus, staatlich sanktioniertem Anti-Zionismus und der Unmöglichkeit, innerhalb der Regeln der ultra-orthodoxen Kirche zu leben, war der Alltag in der Sowjetunion enorm schwierig für Juden.

Land: Sowjetunion / Jahr:

Zwischen traditionellem Antisemitismus, staatlich sanktioniertem Anti-Zionismus und der Unmöglichkeit, innerhalb der Regeln der ultra-orthodoxen Kirche zu leben, war der Alltag in der Sowjetunion enorm schwierig für Juden. Nach dem Sechs-Tage-Krieg im Jahre 1967 stellte eine große Zahl sowjetischer Juden Ausreiseanträge. So gerieten sie in einen Teufelskreis, da sie jetzt auch noch des Vaterlandverrats angeklagt werden konnten. Die meisten dieser Anträge wurden abgelehnt – daher der Begriff „Refuseniks“ – entweder auf der Stelle oder nach einer endlosen Wartezeit, während die Unterlagen geprüft wurden. Einige wurden verhaftet, andere gezwungen, ihre Arbeitsplätze zu verlassen – wobei die Arbeitslosigkeit den Vorwurf des „sozialen Parasitismus“ einbrachte. Natan Sharansky, ehemaliger Sekretär des Dissidenten Sacharow, wurde 1976 der Leiter der Refusenik-Bewegung. Er wurde 1977 zu 13 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und 1986 nach Westberlin entlassen. Gruppenfoto einiger Refuseniks. Hintere Reihe: Vitaly Rubin, Vladimir Slepak, Lev Ovsisscher, Alexander Druk, Yossi Beilin. Vordere Reihe: Natan Sharansky, Ida Nudel, Alexander Lerner.

Erster Riss im Eisernen Vorhang

Am 19. August 1989 veranstaltete die Internationale Paneuropa-Union nahe der ungarischen Stadt Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze eine symbolische, friedliche und sehr medienwirksame Demonstration (Foto).

Land: Volksrepublik Ungarn / Jahr:

Am 19. August 1989 veranstaltete die Internationale Paneuropa-Union, eine Nichtregierungsorganisation mit Otto von Habsburg als Präsident, nahe der ungarischen Stadt Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze eine symbolische, friedliche und sehr medienwirksame Demonstration (Foto). Die Tschechoslowakei, die DDR und Ungarn wankten seit Monaten unter dem Druck der eigenen Bevölkerungen. Zwei Monate zuvor hatten die Außenminister Österreichs und Ungarns Stacheldrähte der Grenzanlagen durchgeschnitten. Damit wurde Ungarns Entscheidung, den Eisernen Vorhang aufzulösen, symbolisch unterstrichen. An diesem Tag wurden die Grenzposten für drei Stunden geöffnet. Rund 600 DDR-Bürger nutzten dies und flohen in den Westen. Sie wurden von den Grenzsoldaten verschont, die noch immer unter dem Befehl standen, auf Flüchtlinge zu schießen, es aber „aus Menschenliebe“ verweigerten. Das historische Ereignis wird jährlich vor Ort gefeiert.

Interview mit einer DDR-Bürgerin, die ihr Land verlassen will

In einem kommunistischen Land zu leben, sollte eigentlich für jeden Ostblock-Bewohner ein wahrgewordener Traum sein ...

Land: Deutsche Demokratische Republik / Jahr:

In einem kommunistischen Land zu leben sollte eigentlich für jeden im Ostblock ein wahrgewordener Traum sein. Eine Ausreisebewilligung zu beantragen, wird als ein Verrat gesehen. Die Methoden, die Menschen zum Bleiben zu bringen, waren vielfältig: Den Angehörigen einer Person, die ein Visum beantragt hatte, konnte z. B. ein Platz an der Universität verweigert werden. Die Person und ihre Angehörigen konnten gezwungen werden, ihre Arbeitsstelle zu kündigen. Obwohl dennoch die meisten Ausreiseanträge abgelehnt wurden, war die daraus resultierende Arbeitslosigkeit illegal bzw. galten Arbeitslose als „soziale Parasiten." Trotzdem stieg die Zahl der Anträge seit den späten 1980er Jahren, insbesondere bei jungen Ostdeutschen.

DDR-Exodus

Im Sommer 1989 überwältigten mehrere Wellen von DDR-Flüchtlingen (die Zahl wird auf bis zu 15.000 Flüchtlinge geschätzt) die westdeutsche Botschaft in Prag ...

Land: Tschechoslowakei / Jahr:

Im Sommer 1989 überwältigten mehrere Wellen von DDR-Flüchtlingen (die Zahl wird auf bis zu 15.000 Flüchtlinge geschätzt) die westdeutsche Botschaft in Prag und verlangten, nach Westdeutschland gelassen zu werden. Mehr als die Hälfte von ihnen musste draußen auf dem Boden schlafen, andere kletterten über die Gartenmauer. Männer schliefen in den Gängen, auf der Treppe oder in Zelten im Garten; Frauen und Kinder schliefen in den evakuierten Büros. Der von schwerem Regen matschige Garten war völlig überfüllt. Außerdem gab es logistische Probleme und die Botschaft schien an den Rand einer humanitären Krise zu geraten. Budapest schloss die Grenze zu Österreich, wo die Flucht für ein paar Wochen möglich gewesen war. Im Spätsommer war die Tschechoslowakei das letzte Land, mit dem Ostdeutschland eine „Kein Visa, kein Reisepass“-Politik hatte. Schließlich, am 30. September 1989, ging der deutsche Außenminister der Bundesrepublik nach Prag und teilte den 4.000 DDR-Flüchtlingen in der Botschaft mit, dass sie nach Westdeutschland dürften. Die Flüchtlinge warfen die Schlüssel ihrer ostdeutschen Häuser und Autos fort und signalisierten damit die Weigerung, jemals nach Ostdeutschland zurückzukehren. Ein paar Stunden später, in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober, fuhren mehrere Sonderzüge von Prag über Dresden nach Hof, in die Bundesrepublik Deutschland. Zum Gedenken an dieses Ereignis steht jetzt im Garten der Botschaft eine Bronzestatue eines Trabanten mit Füßen statt Reifen von David Černý.